Was die Lehren
der Tequila-Krise für den Ausstieg aus der lockeren Geldpolitik bedeuten
Der Ausstieg der EZB aus der expansiven
Geldpolitik impliziert keinen Rückgang der TARGET2-Salden. Die Erfahrung
lehrt uns: Es könnte genau andersherum kommen.
Frank Westermann
Gastbeitrag auf Handelsblatt-Online, 14.01.2019
Um zu verstehen, was spekulative Attacken für
Steuerzahler bedeuten, versetzt man sich am besten in das Jahr 1994
zurück. Die erste große Zahlungsbilanzkrise im Zeitalter globalisierter
Finanzmärkte fand damals in Mexiko statt.
Die Zentralbank hatte gerade versucht, ein Zeitfenster für Reformen zu
öffnen. Während dieses Zeitraums stellte sie nahezu unbegrenzt Kredit zur
Verfügung und hoffte auf einen Aufschwung. Doch die Märkte antizipierten,
dass bei den anstehenden Wahlen die schmerzhaften Reformen nicht umgesetzt
würden und zogen das Geld aus Mexiko ab statt zu investieren.
Die Notenbank tauschte die ihr angebotenen Pesos zum Fix-Kurs von circa
1:3 in Dollar um und ermöglichte so die Kapitalflucht. Die Peso-Geldmenge
wurde dabei verfünffacht, die Währungsreserven schrumpften auf ein
Fünftel. Panik setzte ein – denn schnell wurde klar, dass die Reserven
nicht mehr lange reichen würden, um Peso-Vermögen in US-Dollar zu
verwandeln. Je kleiner die Reserven wurden, desto schneller wollten die
Anleger ihr Geld abziehen.
Ein Vierteljahrhundert später ist diese Erfahrung der Tequila-Krise von
1994 noch immer aktuell: Im Euro-Währungsgebiet hatte sich in 2011 eine
ähnliche Panik ausgebreitet. Der zentrale Unterschied besteht darin, dass
Europa kein Fix-Kursverbund ist, sondern eine gemeinsame Währung hat. Die
Währungsreserven der Krisenländer blieben daher unangetastet, als private
Anleger ihr Geld aus Griechenland, Italien, Irland, Portugal und Spanien
abzogen.
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Die EZB verhielt sich jedoch zu Beginn der Krise sehr ähnlich: Sie
beschloss die Vollzuteilungspolitik, lieh also den Banken beliebig viel
Geld. Die Notenbanken im Eurosystem druckten dabei keine Drachmen, Lira
oder Pesetas mehr, sondern Euros. Das Motiv war gleich. Wieder sprachen
alle von einem Zeitfenster für Reformen. Und die Reaktion der Märkte war
ähnlich, denn die Anleger nutzen die Liquidität, um ihr Vermögen aus
Südeuropa und Irland abzuziehen.
Ein Unterschied zwischen den beiden Krisen besteht darin, dass die Banca
de Mexico ihre Geldschöpfung nur verfünffachte, während die Krisenländer
Europas sie bis zum Höhepunkt der Krise fast verzehnfachten. Ein normales
Fixkurssystem hätte eine Zahlungsbilanzkrise dieser Größenordnung wohl
nicht ausgehalten.
Was bedeutet diese Flexibilität, die die EZB den Zentralbanken der
Krisenländer gewährte, für die Bürger und Steuerzahler? Und wo liegen die
Grenzen der Kapitalflucht innerhalb Europas?
Zunächst zu den Grenzen: Aus heutiger Sicht vergisst man leicht, dass die
EZB im Frühjahr 2011 überlegte, aus der expansiven Geldpolitik
auszusteigen. Der damalige EZB-Präsident Jean-Claude Trichet hatte zuvor
schon eine große Rede über die kommende „Exit-Strategie“ gehalten, der
Zentralbankrat hatte die Zinsen erhöht und die Sicherheitsanforderungen
für Kredite verschärft.
Im Gegensatz zu Mexiko sind die Netto-Kapitalabflüsse in Südeuropa zwar
nicht durch ihre Währungsreserven beschränkt, wohl aber durch die
gemeinsame Geldpolitik. Wenn die EZB ein Ziel für das Währungsgebiet
vorgibt, zum Beispiel um Inflation vorzubeugen, kann die Geldschöpfung der
einzelnen Notenbank nicht unbegrenzt wachsen.
Der absehbare Konflikt zwischen Trichets Exit-Strategie mit der
fortlaufend hohen Zentralbankkredit-Nachfrage in den Krisenländern war
rückblickend ein wesentlicher Faktor, der auch in Europa die Dynamik zu
einer spekulativen Attacke hat anschwellen lassen. Im Winter 2011/12 stand
die EZB vor der schwierigen Entscheidung, einen Auseinanderbruch zu
riskieren oder die Exit-Strategie aufzugeben. Mario Draghis „Whatever it
takes“ signalisierte den Märkten, wie die EZB sich fortan verhalten würde:
Sie werde alles tun, um den Euro zu retten.
Für die Steuerzahler in Mexiko bedeutete die Zahlungsbilanzkrise, dass sie
öffentliches Vermögen, die Währungsreserven des Landes im Wert von circa
20 Milliarden US-Dollar, verloren. Die Gewinner waren die Anleger, die in
mexikanische Staatspapiere investiert hatten und nun in gleichem Umfang
Aktien, Immobilien und Staatspapiere in Amerika besaßen.
In Europa ist dies nicht viel anders, nur dass der Verteilungskonflikt um
den Schaden noch bevorsteht, falls der Euro auseinanderbricht. Denn dann
wird es eine große Schlussabrechnung geben, bei der festzustellen ist,
welche Notenbank wie viel Euro (elektronisch) gedruckt hat und wie viel
davon grenzüberschreitend überwiesen wurde. Die Target2-Salden messen
letzteres.
In der Jahresendbilanz 2018 lag die Target-Forderung der Bundesbank bei
966 Milliarden Euro. In diesem Umfang ist Zentralbankgeld aus anderen
Ländern nach Deutschland geflossen. Dies entspricht bei aktueller
Marktkapitalisierung dem Wert von 28 der 30 Dax-Unternehmen.
Bei der Diskussion um die mögliche Budgetrelevanz dieser Salden wird eines
häufig vergessen: Der eigentliche Schaden, der Verlust an Vermögen des
verbleibenden Euro-Währungsgebietes, ist am Tag des Austritts einzelner
Länder bereits eingetreten. Durch jahrzehntelange reduzierte
Gewinn-Ausschüttung an die Mitgliedsstaaten kann dieser Verlust über
Generationen verteilt werden.
Dies ist aber für die Bewertung des Schadens so wenig relevant, wie es zum
Beispiel einem Aktienbesitzer egal sein kann, ob er einen sofortigen
Kursverlust oder einen dauerhaften Dividendenausfall tragen muss. Wenn man
die Target2-Schuldner zwingt, die Verbindlichkeiten beim Austritt in Euro
zu bedienen, wäre es nicht viel besser, denn dann hätten die Steuerzahler
der Krisenländer einen Schaden analog zu Mexiko. Besser wäre es daher die
Salden schon vorher periodisch zu tilgen, so wie es in den USA beim
Interdistrict-Settlement Account üblich ist.
Die Exit-Strategie von 2011 ist eine Warnung an all diejenigen, die
glauben, der aktuelle Ausstieg aus der Quantitativen Lockerung (QE), also
aus der expansiven Geldpolitik, würde nun auch einen Rückgang der
TARGET2-Salden implizieren. Die bisherige Erfahrung mit spekulativen
Attacken und Ausstiegs-Strategien lehrt: Es könnte auch genau umgekehrt
kommen.
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Der Autor: Frank Westermann ist Professor für
Volkswirtschaftslehre in Osnabrück. Sein Buch „Boom-Bust Cycles and
Financial Liberalization“, gemeinsam mit Aaron Tornell, bei MIT Press,
untersuch die Finanzkrisen der 80er und 90er Jahre. Das von ihm geleitete
Institut für Empirische Wirtschaftsforschung verfolgt seit 2011 die
Target2-salden auf der Seite www.eurocrisismonitor.com.
Nachzulesen auf
www.handelsblatt.com