Euro Crisis Monitor

 

 

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Prof. Frank Westermann. Ph.D.
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Dr. Sven Steinkamp
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Streit über Target2-Salden - Im Interview: Frank Westermann

"Vor Allem Kapitalflucht treibt den Target-Saldo"


Die EZB unterstützt mit ihrer Geldpolitik Kapitalflucht nach Deutschland, sagt Frank Westermann, VWL-Professor in Osnabrück. Das ist nicht ohne Risiken.

 

Interview durch GERALD BRAUNBERGER UND CHRISTIAN SIEDENBIEDEL
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.8.2020

 

Herr Westermann, der deutsche Saldo aus dem europäischen Zahlungsverkehrssystem Target 2 ist jetzt zum ersten Mal in der Geschichte über die Grenze von einer Billion Euro gestiegen. Das klingt spektakulär. Was steckt aus Ihrer Sicht dahinter?
Dahinter steckt aus meiner Sicht in erster Linie eine Kapitalflucht. Investoren flüchten aus italienischen und spanischen Wertpapieren.

 

Warum sollten sie das tun, und wieso erhöht das den deutschen Target-Saldo?
Investoren wollen sich in der Corona-Krise von riskanten Wertpapieren in Südeuropa trennen und lieber sichere Vermögenstitel in Deutschland erwerben. Sie tun das, indem sie die unsicheren Papiere bei ihren nationalen Notenbanken im Eurosystem als Sicherheiten hinterlegen und dafür Kredite bekommen, mit denen sie beispielsweise in Deutschland sichere Vermögenstitel erwerben können. Diese grenzüber-schreitenden Transaktionen ziehen entsprechende Bewegungen der Target-Salden nach sich. Der deutsche Saldo steigt, die südeuropäischen werden stärker negativ.

 

Woran machen Sie fest, dass dies der Grund für die Spreizung der Target-Salden in Europa ist?
Parallel mit der Spreizung der Target-Salden ist auch die Summe der Refinanzierungskredite der Notenbanken in Europa gestiegen. Das sind die Kredite, die das Eurosystem über die einzelnen nationalen Notenbanken in ihren Ländern gegen Sicherheiten vergibt. Die Summe dieser Kredite ist in der Corona-Krise deutlich angestiegen. Das sind also Kredite, die zum Teil gegen risikobehaftete Sicherheiten vergeben wurden, die private Investoren loswerden wollten.


Wer sind die Akteure in diesem Spiel? Können nicht in erster Linie Banken solche Refinanzierungs-kredite bei der Notenbank gegen Sicherheiten bekommen?
Ja, die Banken der jeweiligen Länder sind das Bindeglied zwischen den privaten Großanlegern und der Notenbank. Es müssen beispielsweise in Italien keine italienischen Staatsbürger sein, von denen die Kapitalflucht ausgeht. Es können auch internationale Fonds aus anderen Ländern sein, die italienische Wertpapiere halten und diese als unsicher einstufen.

 

Warum verkaufen die Anleger, die Kapitalflucht begehen wollen, ihre unsicheren Wertpapiere nicht einfach und kaufen dafür sichere?

Das könnten sie nur mit hohen Kursabschlägen tun. Ein Investor in Italien kann seine italienischen Staatsanleihen nicht einfach in den Rucksack packen, nach Frankfurt bringen und dort gegen eine deutsche Immobilie oder Aktie eintauschen. Da müsste er hohe Einbußen in Kauf nehmen. Wenn er sie dagegen bei seiner Notenbank als Sicherheit hinterlegen lässt, geht das mittlerweile mit sehr moderaten Abschlägen.


Auch bei den Notenbanken gibt es aber Anforderungen an Sicherheiten?
Ja, aber die wurden im Laufe der Euro-Krise kontinuierlich herabgesetzt. Mit dem Beschluss für das Krisenprogramm PEPP hat der EZB-Rat die Anforderungen an Sicherheiten für Refinanzierungskredite im Euroraum nochmals verringert. Man kann dort nicht nur italienische Staatsanleihen hinterlegen, sondern beispielsweise auch Anleihen italienischer Städte und Regionen wie Lazio und Venedig. Die Lagunen-Stadt hat ja in der Corona-Zeit große Schwierigkeiten, weil sie keine solchen Tourismusströme mehr erlebt, das hat natürlich auch Auswirkungen auf den Haushalt. Ähnliches gilt übrigens auch für die
hochverschuldete Stadt Bremen. Die Anleger wollen solche Papiere loswerden.

 

Der Rekord bei den Target-Salden ist also auch eine Folge von zuletzt relativ laschen Standards der EZB bei den Anforderungen an Sicherheiten?
Ja. Und das ist heikel, weil der Steuerzahler als Eigentümer der Notenbank dadurch indirekt Eigentümer von recht zweifelhaften Wertpapieren werden könnte. Dazu zählen neben den Regionalschulden auch wieder griechische Staatspapiere, für die Deutschland ja selber in erheblichem Umfang bürgt.


Die Bundesbank stellt den Anstieg der Target-Salden nicht als Folge von Kapitalflucht dar, sondern als ganz normale Folgen der Geldpolitik, nämlich der Anleihekäufe. Gibt es da einen Widerspruch?
Nein, es gibt diese beiden unterschiedlichen Treiber, die Anleihekäufe und die Kapitalflucht durch Refinanzierungskredite. Es schwankt von Monat zu Monat, was dominiert. Im Juli waren es vor allem die Anleihekäufe, die den Saldo hochgetrieben haben. Die einzelnen nationalen Notenbanken des Euroraums kaufen die Anleihen des jeweils eigenen Landes an, sie kommen aber oftmals von ausländischen Großanlegern, die ihre Konten für Europa in Frankfurt unterhalten. Das lässt die südeuropäischen Salden stärker negativ werden und den deutschen Saldo steigen. Aber in anderen Monaten, etwa dem Juni, war die Kapitalflucht durch Refinanzierungskredite die entscheidende Kraft.


Woran machen Sie fest, ob es in einem Monat das eine oder andere war? In die Target-Salden kann man nicht hineinschauen...
Im Juli ist das gesamte Volumen an Refinanzierungskrediten nicht gestiegen. Deshalb muss es da an den Anleihekäufen gelegen haben. Im Juni war es anders, da hat das Volumen der Refinanzierungs-kredite der Notenbanken des Eurosystems um 500 Milliarden Euro zugelegt. In der Corona-Krise hat das von Monat zu Monat gewechselt, und wir hatten mal den einen Faktor, der dominierte, und mal den anderen.

 

Wie passt dazu, dass im Juli der Target-Saldo von Italien zurückgegangen ist, von 536,72 auf 522,16 Milliarden Euro?
Das ist ja eher ein leichter Rückgang. Man müsste jetzt die Target-Zahlen für die anderen südeuropäischen Länder abwarten, die später kommen. Vermutlich sind dann andere Länder aktuell stärker betroffen. Für die zurückliegenden drei bis vier Monate kann man insgesamt sagen, dass die Kapitalflucht in erster Linie aus Italien und an zweiter Stelle aus Spanien kam.


Wird nach dieser Definition nicht jede Portfolio-Umschichtung zu einer Kapitalflucht? Welchen normativen Charakter hat das Wort Kapitalflucht dann noch?
Ohne die Notenbank würde das nicht gehen. Wenn der Investor selbst mit dem Rucksack über die Grenze fahren würde, müsste er wie beschrieben hohe Kursverluste hinnehmen. Die Notenbank ermöglicht erst die lukrative Kapitalflucht. Sie akzeptiert die Wertpapiere zu einem Preis, der am Markt nicht möglich wäre. Das ist also eine indirekte Subvention von Kapitalflucht.


Spielt auch eine andere Form der Kapitalflucht eine Rolle, nehmen private Haushalte aus Südeuropa einfach ihre Ersparnisse und überweisen sie an deutsche Banken?
Nein, das haben wir nur einmal während der Euro-Krise, in Griechenland in 2015, gesehen. Aber jetzt spielt das keine Rolle.


Wird „Hot money“ abgezogen, also kurzfristig angelegtes Geld, das schnell umdisponiert werden kann?
Auch das ist hier zumindest nicht das zentrale Phänomen.


Inwieweit spielen denn bei den Target-Salden mögliche Leistungsbilanzdefizite eine Rolle?
Im aktuellen Monat zunächst einmal nicht. Denn Italien hat ja sogar einen Überschuss in der Leistungs-bilanz, seit ungefähr 2013. Es ist aber eine rückwirkende Finanzierung möglich: Die italienische Staatsanleihe in einem Depot eines Vermögensverwalters in London liegt da vielleicht schon zehn Jahre. Dann hat Italien damals vielleicht ein Defizit in der Leistungsbilanz über den privaten Markt finanziert, und der Betrag wird jetzt nachträglich von der Notenbank übernommen. Das muss also nicht in einem einzelnen Monat korrelieren, es kann auch eine Finanzierung im Nachhinein geben.


Muss einem das denn Sorgen machen, dass unser Target-Saldo jetzt die Billion überschritten hat?
Ich denke schon. Eine Billion Euro stehen im Feuer. Die Target-Salden sind ein Teil des deutschen Auslandsvermögens, und es würde insbesondere heikel, wenn ein großes Land den Euro verlässt. Ich halte das nicht für besonders wahrscheinlich, aber man muss es im Blick haben. Wenn die Währungs-union zusammenbleibt, sind die Target-Forderungen so etwas wie Kredite, die nicht ausgefallen sind, aber auch keinen Zins bringen. Aus meiner Sicht ist das aber trotzdem noch kritikwürdig, weil der Kredit-geber nicht entscheiden kann, wie viel zinslosen Kredit er vergeben will. Die Notenbanken subventionieren gleichsam die Kapitalflucht von Privaten.

 

Inwiefern ist das eine Subvention?
Man kann da beispielsweise über die Abschläge argumentieren, die von den Notenbanken für die Beleihung von Sicherheiten genommen werden. Sie sind viel zu gering im Vergleich zu dem, was der Markt an Abschlägen nehmen würde. Das ist eine Subvention. Auch was überhaupt als Sicherheit akzeptiert wird, ist von der Europäischen Zentralbank immer weiter ausgeweitet worden, noch einmal mit dem Krisenprogramm PEPP. Das sind Formen der Subvention für private Kapitalflucht.


Was würden Sie vorschlagen, was man ändern sollte?
Das alles sind Auswirkungen einer sehr expansiven Geldpolitik, der ich insgesamt kritisch  gegen-überstehe. Um diese Form der Kapitalflucht und die Subvention derselben einzudämmen, sollten die Notenbanken insbesondere von einer zu laxen Bewertung von Sicherheiten Abstand nehmen. Dann gäbe es diesen Nebeneffekt nicht. Aber auch das Target- System insgesamt ist aus meiner Sicht reformbedürftig. Das System hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil ist, dass eine solche Kapitalflucht nicht zum Zusammenbruch des Euros führt. In Mexiko ist mal in einer ähnlichen Situation das Währungs-system mit der Bindung an den Dollar zerbrochen. Das passiert hier nicht, dank des Target-Systems. Die Nachteile des Systems aber sind die genannten impliziten Folgen für den Steuerzahler.

 

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